NTL
'Non Toxique Lost', 1982, v.l.n.r.:
 Peter Prieur (aka 'Pogo') (gesang)
Achim Wollscheid (elektronik, synthesizer, gitarre)
Sea Wanton (gesang, elektronik, synthesizer)
T.poem (bass, violine, effekte),
 foto von 'cherrypop'

"Am 12. Juli setzten die Deutschen, wiederum in Ypern, ihren neu entwickelten Gelbkreuz-Kampfstoff ein. Bekannt wurde dieses Gift auch unter dem Namen LOST, Mustard Gas (Senfgas) und Yperit. Schon kleinste Mengen LOST verursachen monatelanges Leiden und einen qualvollen Tod. LOST-verseuchtes Gelände kann längere Zeit ohne Schutzkleidung nicht betreten werden. Diese gab es zur Zeit des ersten Weltkrieges allerdings noch nicht. In den Gasnebeln des Ersten Weltkriegs starben 91.000 Soldaten. 1,3 Millionen Menschen wurden durch Giftgas verletzt...."

  und in 2008 - Achim Wollscheid - Sea Wanton (artwork: Sea Wanton)

und in 2015 - Jammin' Unit & Sea Wanton (artwork: Jammin' Unit)

...durch die der gestank hochsteigt (text von Sea Wanton)



ausser sich vor wut, wirft der sänger seinen schmalen körper gegen den betonpfeiler.
krachen da die knochen?
lauter lärm, bassläufe und der wabbernde rhythmus des sequenzers
bohrt sich hinter die bühne - hinein in die zuckenden filmsequenzen.
viele bekannte gesichter, sogar in der grossen menge.
bei diesem konzert ensteht die idee für 'NTL'.

'Pogo' (von den 'Suburban Punx') reisst 'Genesis-P-Orridge'
das mikrofon aus der hand und jault sein
 "you need discipline" hinein.

GPO

T.poem (auch bei 'Jean Gilbert') kennt alle 'Throbbing Gristle
aufnahmen, bevorzugt aber die geräusche von 'Whitehouse'. 

Achim Wollscheid (früher bei 'Die Edelweisspiraten') hatte mit neuen filmen 
und soundstrukturen schon jahrelang experimentiert.
Sea Wanton (früher bei 'Messehalle' und 'No Aid') hat sich erst gestern einen neuen synthesizer gekauft.
es kann also sofort losgehen !
die band nennt sich 'Non Toxique Lost' (kurz: 'NTL').
 ('LOST' ist ein kampfgas).
und da gerade viele cassettenvertriebe in Deutschland (und überall auf der welt) entstehen,
entsteht auch als erstes produkt eine cassette.
also besetzen wir 'Pogo' 's wohnung und übernehmen sein badezimmer (um den guten nachhall zu nutzen).

Roger Schönauer (von '') startet seine 'Teac' bandmaschine, 'Pogo' schreit so viel wie möglich ins mikrofon. Achim Wollscheid schlägt wild auf seine gitarre ein und verfremdet die klänge mit flanger, phaser und verzerrer. T.poem gründet dann (mit Peter Klum) ein cassette label, 'Can Can' , ein label, das nur cassetten veröffentlicht. ('Can Can' " ist der bekannte französische tanz). 
hier also wird das erste 'NTL' produkt veröffentlicht (man beachte den titel: 'Ohne Titel'). ein paar tage später spielen die 'Losts' auch schon live.

T.poem erzeugt schreiendes gequietsche und schrilles klirren auf seiner geige.
Sea Wanton misshandelt synthesizer, sequenzer und tonband.
Achim Wollscheid schlägt auf seine 6-saitige 'Fender' gitarre ein, während 'Pogo'
zynisch, zusammen mit dem aufgewühlten publikum, "....wir sind zufrieden...zufrieden...", singt.
etwa in in der mitte des auftritts werden die verstärker ausgeschaltet
("ruhestörung" sagt der polizist - und wo er recht hat, da hat er recht !)

kein zweifel - ein proberaum muss her.

ein jugendzentrum wird gefunden, die verstärker werden wieder voll aufgedreht und kurz danach werden die
letzten zuhörer vertrieben ("...das ist nur krach. warum probiert ihr's nicht mal mit musik?")
also müssen die instrumente wieder eingepackt werden und nichts wie weg.
glück gehabt - es gibt schnell wieder einen neuen übungsraum.

genau über der pathologie der Mainzer universität. 
alles wird wieder aufgebaut und während wir üben, blicken wir hinunter auf die leichen, schräg durch die
löcher in der kaputten zimmerdecke, durch die der gestank hochsteigt.
die lautstärke wird also nochmals erhöht und 'Pogo' schreit, als ob er die toten da unten aufwecken möchte:
aber tote können nicht mehr tanzen !

irgend jemand aus der (universitäts-) verwaltung hat dann "ethische" bedenken und "siedelt" die 'Losts' in einen sog. "echten" übungsraum um. und hier beginnt der nächste teil der 'Lost' geschichte..
Sea Wanton Sea Wanton at the rehearsal room im "echten" übungsraum, ca. 1983 (mit dem Korg MS-20, der MFB-rhythmusmaschine und dem MFB-sequenzer,
 gespielt über einen Novanex 100-OPS verstärker und T.poem's Revox tonbandmaschine)


weitere hintergrund informationen

es ist Joachim Stender, der alles irgendwann in 1979 startet.
er gründet die band 'Messehalle' und bringt den namen in das musikmagazin 'Sounds'.
einige wenige chaotische auftritte bringen eine kleine 'punk/new wave' fangemeinde.
sie spielen NDW-musik, mit Sea Wanton am bass.
viel eigenes material, aber auch cover-versionen von 'S.Y.P.H'., 'der Plan' oder 'Mittagspause'.
einige der songs werden auf dem cassetten-label 'Neuer Frühling'
(das sich auch manchmal 'Nouveau Printemps' nennt), veröffentlicht
aus 'Neuer Frühling' soll später das label 'Can Can' entstehen.
Joachim Stender verlässt die band und gründet 'P.D' (später 'P16.D4'), um wesentlich experimenteller arbeiten zu können.


Joachim Stender, 1980, foto von Selektion

Sea Wanton wechselt zur "neo post punk" band 'No Aid'.
'No Aid' klingen manchmal wie 'Hawkwind' oder 'Amon Düül'.
mit synthesizer, drums und bass verbreiten sie einiges an unmut, aber auch spass.
aber das publikum ist nicht besonders an ihren aggressiven und chaotischen auftritten interessiert.

NO AID '81 'No Aid', ca. 1981, v.l.n.r.: Sea Wanton, 'Pak' (Nikolas von Bevern), Mickey Koto, Renate von Bevern, Alex

also gründet Sea Wanton 'Non Toxique Lost'.
nach all dem gerede/streit über drogenkonsum und hippie-allüren soll eine politisch motivierte,
eine band mit "bewusstsein" entstehen. mit gewollten bezügen zu neuen kunstentwicklungen
und gegen die dummheit des "modernen zeitgeists".
zudem wird ein fanzine (titel: 'Handbook of Fun') veröffentlicht.
schwarz-weiss kopien, gespickt mit collagen und band-werbung. gleichzeitig
schreibt er in der (deutschen) 'Sounds' über sog. "cassttenproduktionen".

'Pogo', der begeisterte 'T.G.' fan, wird sänger (und singt nebenher auch noch bei den 'Suburban Punx').
Achim Wollscheid (heute bei 'Selektion') ist als erfahrener gitarrist und kunststudent
für die verzerrten und verhallten sounds zuständig.
T.poem spielt geige und schlägt die (selbstgebauten) stahlröhren.
Peter Klum hilft bei tonbandaufnahmen und klangcollagen.

live beim GEMINOX festival 1984 (Frankfurt) 'NTL', live auf dem 'Geminox-festival', 1984, Frankfurt

dann kommen die auftritte.
NTL spielen neben 'Psychic TV', 'Zos Kia' und 'Boubonese Qualk'.
1986 veröffentlichen 'NTL' ihr erstes album. die lp heisst 'Wanton' und enthält einige ruhige,
entspannte songs. doch die platte "floppt".
bei auftritten in Trier, Frankfurt, Berlin, London, Amsterdam und Arnheim (NL)
 versucht die band ihre erste lp zu verkaufen... 

the poster for the performance at the NL-Centrum, Amsterdam

obwohl Jammin' Unit (von 'Air Liquide') und Heiko Wöhler aka 'musikkonkret' (synthesizer und sampler) noch bei zwei auftritten
in den Niederlanden (promoted von 'Staalplaat') the announcement of the performance at Arnheim als 'gastmusiker' aushelfen
,
verschwinden 'NTL' aus dem kreis der aktiven und einflussreichen
sog. 'industrial music' bands, fast unbemerkt von kritikern und fans ...


T. Pargmann und C. Ressler, 2006, manuskript: Zur Geschichte von 'Non Toxique Lost' (NTL)

Zu Beginn der 80er Jahre formierte sich in Mainz die Band 'Non Toxique Lost'. Namenspate für das Projekt war der Kampfstoff Senfgas, der während des Ersten Weltkriegs von den deutschen Wissenschaftlern 'Lommel' und 'Steinkopf' unter dem Codenamen 'LOST' entwickelt wurde. Zwar verweist der Name der Band auf den letztlich ‚ungefährlichen’ Charakter der Musik, doch fungierte auch 'Non Toxique Lost' als ein Mittel des Kampfes, den gegen die eingefahrenen Muster der damaliger Musikkultur. hervorgegangen aus Mitgliedern lokaler Mainzer Punkbands … Gründungsmitglieder waren Sea Wanton, und Achim Wollscheid (S.B.O.T.H.I.) …] Später stiessen dann noch S. Schütze, der Bass, Violine und Effekte spielte, dazu und P. Prieur, genannt "POGO", der den Gesangspart übernahm. Auch wenn NTL oft der 'Neuen Deutschen Welle' zugeordnet wurden und zum Teil gar Einflüsse aus dem Jazz in die Musik hineingelesen worden sind, verstand sich die Band in erster Linie im Kontext der Industrialbewegung. Als sich NTL im Jahr 1982 gründeten war ihre kompromisslose Herangehensweise an Musik maßgeblich inspiriert durch Pioniere des Industrial wie Throbbing Gristle, SPK und Whitehouse. Aus diesen Einflüssen entwickelten Non Toxique Lost ihren Sound zu einem hypnotischen Gespinst aus krachenden Klangwänden, pulsierenden Synthesizern und zornigem Gesang, dass den Hörer in einen emotionalen Sog zieht, der von Angst über Schmerz und Verzweiflung bis hin zu Wut und unbändiger Aggression führt. Streckenweise sehr statisch und vorangetrieben von brachialen Rhythmen ist die Musik von NTL kompromisslos hart und genau deshalb gewissermaßen eine Ausnahmeerscheinung im Deutschland der frühen 80er Jahre. Parallelen zeigen sich eher bei Bands wie Pacific 231 aus Frankreich oder den spanischen Esplendor Geometrico. Im Wesentlichen ziehen sich zwei maßgebliche Ideen durch das musikalische Schaffen der Band: die Verarbeitung alltäglicher Erlebnisse verwoben mit einer explizit politischen Haltung. Ein großer Einfluss kam hierbei von Joachim Stender, der zu dieser Zeit unter anderem auch Mitglied bei P.D. war. Sein Talent, aus dem Stehgreif deutsche Texte über Alltagserlebnisse zu verfassen und so das Konkrete und Direkte zu vermitteln, war ein geeignetes Stilmittel die graue deutsche Realität jener Tage zu verarbeiten.  Doch anders als P.D. und die späteren P16. D4 lehnten Non Toxique Lost es ab sich in einem künstlerischen Kontext verorten zu lassen. Zwar gab es Bezüge zu zeitgenössischen Kunstbewegungen, doch sollte die Musik kein Avantgarde sein, auch wenn das auf den außenstehenden Betrachter so wirken konnte. Eher verknüpften NTL ihr Konzept von Musik mit der Idee mit vorhandenen Mitteln kreativ zu arbeiten und neben Instrumenten auch unkonventionelle Klangquellen zu verwenden. Auch hier zeigte sich wiederum die Umsetzung des Konkreten und Alltäglichen. Gleichzeitig war die Musik radikaler Ausdruck einer oppositionellen Haltung. Mit NTL setzte Sänger Sea Wanton die Intention um eine Band zu gründen, die sich auf anspruchsvolle Weise mit dem sozialen und politischen Stumpfsinn ihrer Gegenwart auseinandersetzte. Damit beabsichtigten NTL nicht nur eine Abgrenzung von der damaligen Rezeption von Musik allgemein, sondern provozierten eine konkrete Auseinandersetzung mit den verkrusteten Formen von Musikverständnis und Jugendkultur. So war die Band permanent mit einem Umfeld konfrontiert, das tief in der Rockkultur der 70er Jahre verwurzelt war, öffentliche Räume wie Kneipen und Jugendzentren waren geprägt von Hippies und drogendurchsetzter Gemütlichkeit. Für ein Projekt wie Non Toxique Lost bedeutete dies den Kampf um neue Freiräume, keine Feindschaft, aber die Notwendigkeit etwas Neues durchzusetzen. Gewissermaßen im Geiste der Punkbewegung zielte die Philosophie der "Losts" auf Provokation und die radikale Umsetzung der eigenen Ideen. Konsequenterweise erfolgte die Abkehr von den etablierten Mechanismen des Musikbusiness nicht nur im musikalischen Sinne, sondern auch bei der Produktion und Vermarktung der Tonträger. So lag es für NTL nahe Kassetten als Medium für ihre Musik zu wählen. Dieses war das Medium, bei dem die Musiker am ehesten die Kontrolle über ihr musikalisches und gestalterisches Schaffen sowie eine direkte Vermarktung behalten konnten ohne an der profitorientierten Maschinerie der Musikindustrie teilzunehmen. 1982 wurden die ersten Aufnahmen auf dem eigens gegründeten Kassettenlabel „Can Can“ veröffentlicht, denen an die 30 weitere Produktionen folgen sollten. Trotz dieses hohen Maßes an Produktivität, das vor allem Studio- und Livematerial der Losts, aber auch etliche Kassettensampler mit internationalen Industrialbands umfasst, blieben NTL und Can Can ein kreatives Betätigungsfeld, das nicht als Vollzeitbeschäftigung oder gar als Lebensinhalt verstanden wurde. Eine erste, stark limitierte Vinyl-Veröffentlichung ließ so einige Jahre auf sich warten. Die Stücke auf der 1986 erschienen LP 'Wanton’, eine Auswahl von Material, das bereits auf Kassetten erschienen war, drückt über weite Strecken eine eher subtile Härte aus, die sich langsam in die Gehörgänge bohrt und von der Band selbst sehr treffend als „Industrial-Muzak“ bezeichnet wird. Im Gegensatz zu ihrem hohen Output an Tonträgern gab es nur selten die Gelegenheit Non Toxique Lost auf der Bühne zu erleben.  Einige wenige Live-Performances fanden etwa in Mainz und Trier, dem Recloose Festival 1985 in London, in Amsterdam, dem "Geminox-Festival" in Frankfurt oder dem "Berlin Atonal 2 Festival"  statt. Doch obwohl insbesondere der Berliner Auftritt bereits 1983 großen Anklang fand und positive Resonanz im Kreise gleichgesonnener Freunde 'Abstrakter Musik' auslöste, blieben NTL ihrer Linie treu und entwickelten keine Ambitionen ihre Vermarktungsstrategie zu ändern. Das Interesse der Band richtete sich eher auf den Aufbau eines nationalen und internationalen Community von Interessierten abstrakter und experimenteller Musik. Es gab ein kleines Netzwerk im Raum Mainz, Wiesbaden und Frankfurt, etwa zum Umfeld des Selektions-Labels (P 16. D 4, S.B.O.T.H.I., etc.), das neben freundschaftlichen Kontakten auch zu gelegentlicher personeller Zusammenarbeit in der Musik (Sessions und Live-performances) führte. Weitere Kontakte wurden zu Graf Haufen in Berlin aufgebaut und reichten bis nach Frankreich, England und Italien. Neben seiner Beteiligung bei Non Toxique Lost publizierte Sea Wanton ab 1983 das Fanzine „Handbook Of Fun“, das als Medium für subversive Kommunikation galt. Das Fanzine war ein Mittel zur Verbreitung von Texten und Kollagen, die die Protesthaltung gegen etablierte Gesellschaftsstrukturen und Kunstverständnis oder verkrustete Musikkultur aufzeigten und damit als eine gedruckte Form dessen verstanden werden kann, was auch die Musik der Losts transportierte. Darüber hinaus stellte das Handbook Of Fun ein Forum für experimentelle Musik dar, über das Kontaktadressen, etwa zu anderen Kassettenlabeln oder interessanten Plattenläden, verbreitet wurden und so auch Teil eines internationalen Netzwerks der Industrialszene der frühen 80er war. Non Toxique Lost begegnete den eingefahrenen Mustern ihrer Umwelt mit einer radikalen Musikalischen Antwort, die, obwohl in einer deutlichen/deutschen Sprache formuliert, jedoch nur von wenigen verstanden wurde. Man könnte sagen, dass die soghafte, rhythmische Härte einiger Tracks - die mittlerweile bei zahlreichen Vertretern des Industrial zu finden ist - einige Jahre ‚verfrüht’ war. Die Tatsache, dass die Musik bei den meisten Hörern eher befremdliche bis verstörende Reaktionen zeigte, sowie die konsequente Veröffentlichungspolitik und Verpflichtung gegenüber dem kulturellen Untergrund, sind vermutlich die Ursache dafür, dass die Band bis heute weitgehend in Insiderkreisen bekannt geblieben ist. Doch obwohl oder gerade weil sich die Hörgewohnheiten in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt haben, hat die Musik von NTL als Pionierleistung des rhythmischen Industrial in Deutschland ihren Reiz behalten. Seit einigen Jahren ist Sea Wanton mit neuen Mitstreitern wieder als Non Toxique Lost aktiv. Während die Band sich dabei mittlerweile aktueller Klangquellen wie Sampler und Computer bedient, bleibt sie nach wie vor der Idee von elektronischer Härte und einer politischen Haltung verpflichtet und entfaltet so ihren eigenen musikalischen Kosmos. Parallel dazu ist eine Auswahl von frühem Kassettenmaterial auf Vinyl wieder veröffentlicht worden, die einen guten Überblick über das Gesamtwerk der Band vermittelt.